Leid annehmen

Wenn gefragt wird, wie wir Ängsten und Schuldgefühlen auflösen können, kommt immer wieder der gute Rat, sie in uns anzuehmen. Das ist allerdings oft schnell gesagt oder geschrieben, doch steckt hinter diesen Worten ein sehr tiefgreifender seelischer Prozeß, welcher nicht so einfach durchzuführen ist.

Ich kenne das bei mir selber. So wie ich oft gefragt werde, wie man dies macht, so habe ich an mir selbst auch mit allen möglichen Methoden versucht, mir meine Schuldgefühle oder Ängste aufzulösen. Sehr wertvoll sind mir die Affirmationen “Ich vergebe mir meine Ängste in Liebe und Dankbarkeit” oder “Ich nehmen meine Schuldgefühle in Liebe und Dankbarkeit an”.

Doch mußte ich erkennen, daß die Worte alleine noch nichts Wesentliches bewirken. Also habe ich mich auf mein Herz konzentriert und habe versucht, dort ein Gefühl der Liebe und Freude zu erzeugen. Ich habe es auch mit Licht-Visualisieren ausprobiert. Habe mir meine Innere Flamme in meinem Herzraum vorgestellt. Ich konnte zwar damit das Dunkel in dieser Gegend, welches von den unangenehmen Gefühlen der Angst und Schuld erzeugt worden ist einigermaßen verdrängen, doch hat mich diese Methode immer noch nicht weitergebracht. Das echte Gefühl der Liebe, eine warme und befreiende Empfindung in einem geöffneten Herzen, stellte sich immer noch nicht ein.

Da wurde mir klar, warum ich bisher nicht erfolgreich gewesen bin. Ich war die ganze Zeit bemüht, meine für mich unerwünschten Gefühle zu unterdrücken, um sie durch Angenehmere zu ersetzen. Dadurch lösten sich die unerwünschten Gefühle aber noch lange nicht in Luft auf, geschweige denn in Liebe. Sie werden einfach nur aus dem Bewußtsein zurück in Unterbewußtsein verdrängt und verbleiben dort so lange, bis sie einen Weg gefunden haben, uns wieder bewußt zu werden.

Dieser Prozeß des Unterdrückens oder Wegdrückens kostet natürlich viel Kraft. Irgendwann haben wir diese nicht mehr und dann es ist uns zu mühsam, sie weiterhin für das Unterdrücken von Gefühlen einzusetzen. Meist ist dann der Moment gekommen, wo wir sagen: “Ich kann nicht mehr so weiterleben, es muß sich etwas ändern.” Und dann bricht die emotionale Mauer um uns herum auf und wir lassen das bisher Verdrängte endlich an uns herankommen…

Jetzt sind wir erst wirklich bereit, die unangenehmen Gefühle und den damit verbundenen Schmerz, welche uns leiden ließen, wahrzunehmen. Wir öffnen uns diesem Schmerz und lassen zu, daß er uns innerlich berührt. Die innere Wunde, welche bisher für uns verschlossen gewesen ist, öffnet sich. Wenn wir dies spüren, kann Trauer und Wut in uns aufsteigen. Möglicherweise fangen wir an zu weinen. Wir sollten diese Tränen auf jeden Fall zulassen, denn sie zeigen uns, daß jetzt der Augenblick der Heilung gekommen ist.

Fühlen wir in uns hinein, dann fühlen wir uns möglicherweise wund, verletzbar. Das ist auch so in Ordnung. Sich öffnen heißt immer auch, sich verletzbar zu zeigen, seine eigene Verletzbarkeit nicht mehr zu verleugnen sondern anzunehmen.

Unser Leid, unsere Ängste oder Schuldgefühle sind einst entstanden, weil wir verletzt worden sind. Wir mochten uns aber nicht verletzlich zeigen, verschlossen diese Gefühle und ließen sie damit nicht mehr an uns herankommen. Erst wenn wir jetzt unseren Mantel der Unverletzbarkeit aufgeben und die damals erlebten Schmerzen in uns zulassen, also auch die Verletzung bewußt zulassen, können wir uns von dem damaligen Schmerz wirklich heilen. Der Schmerz, welcher uns verletzt hat, heilt uns auch wieder. Und erst dann haben wir unser Leid wirklich angenommen.

Es ist nie einfach, einen emotionalen Prozeß in Worten zu beschreiben. Er ist nur wirklich auf der Gefühls-Ebene richtig wahrnehmbar und darum auch nicht wirklich nachahmbar. Wenn dem so wäre, dann wäre jeglicher Heilungsprozeß sehr leicht. Dann bräuchten wir ihn nur in einem Buch nachzulesen und Heilung würde geschehen. Dem ist aber nicht so. Heilung erfolgt immer nur durch eigene innerseelische Prozesse, welche jeder für sich selber durchlaufen muß. Und keiner kann einem so richtig sagen, wie es bei einem selbst wirklich funktioniert.

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